Triage: Auf die Krankenhäuser rollt eine Katastrophe zu

Der nachfolgende Artikel ist in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung  – eine der renommiertesten Zeitungen in unserer Republik .-  erschienen. Er stammt  nicht aus dem März 2020, sondern vom 27. März 2021. Alle Freiheitsfanatiker und Lockerungsfreaks  sollten ihn ausführlich lesen und daran denken, dass  sie oder einer ihrer Angehörigen in einigen Wochen  unter Umständen in einigen Wochen vor der Tür eines Krankenhauses stehen und abgewiesen werden (müssen) mit der Begründung “Nichts geht mehr”. Und das nur weil jetzt zu einem Zeitpunkt zu dem die Pandemie aufgrund der Mutationen auf einen neuen Höhepunkt zusteuert, einige Leute unbedingt auf Freiheitsrechte  und vielleicht auch auf Wählerstimmen schielen.

Schon bald könnten Mediziner gezwungen sein zu entscheiden, welchen Covid-Patienten sie helfen und welchen nicht. Doch an das Personal in den Kliniken denkt gerade niemand.

Auf die Krankenhäuser rollt eine Katastrophe zu

Wer kann schon genau sagen, ob Kanzlerin und Ministerpräsidentinnen und -präsidenten auf das Prinzip Glück oder „Kopf in den Sand“ setzen, ob sie sich in bester Absicht blenden lassen von Nebelkerzen und Worthülsen – Hygienekonzept, Modellversuch oder Frühlingseffekt wären nur drei Beispiele. Im Schatten der Debatten um steigende Infektionszahlen hat der Deutsche Ethikrat vor wenigen Tagen ein Symposium zum Thema Triage veranstaltet, man kann es als Vorbereitung für die anrollende Katastrophe sehen.

Die Triage, zur Erinnerung, ist ein Konzept der Militärmedizin, sie soll Ärztinnen und Ärzten helfen, die extrem schwierige Entscheidung zu treffen, welcher Patient unter großer Knappheit an Personal und Material zu retten ist; und welchen man sterben lässt. Allein, dass es nötig ist, solche Fragen überhaupt zu diskutieren, scheint offenbar niemanden zu stören.

Viele Ärztinnen und Ärzte, viele Pflegekräfte fühlen sich im Stich gelassen

Seit Wochen und Monaten warnen alle seriösen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor der Mutante B 1.1.7., vor großem Leid, das über das Land kommt – aber ihre Stimmen verhallen im Berliner Regierungsnebel. „Wenn voll ist, ist voll“, sagen manche Intensivmediziner und zucken mit den Schultern; das wirkt pragmatisch, ist aber Zeichen von Resignation und Frustration. Gerechnet wird in Betten und Beatmungsmaschinen, das passt ja auch ganz wunderbar zu diesem anonymen Wörtchen „Gesundheitssystem“.

Doch es sind Menschen mit Seelen und Sorgen, die Tag und Nacht unter Vollschutz hochinfektiöse Patienten auf Intensivstationen zu versorgen haben. Es sind Menschen in diesem „System“, die sich davor fürchten, tatsächlich schon bald entscheiden zu müssen, welche ihrer Patienten sie versuchen zu retten, und welche nicht. Es sind Menschen an vorderster Front der Pandemieabwehr, die sich nun ungebeten und eigentlich vermeidbar mit dem Strafrecht beschäftigen müssen – ist eine Triageentscheidung gegen das Leben eines Patienten eigentlich Totschlag durch Unterlassen?

Viele Ärztinnen und Ärzte, viele Pflegekräfte fühlen sich im Stich gelassen und fragen sich, wie sie dem enormen Druck noch länger standhalten können, während der Staat versagt, seine Bürgerinnen und Bürger und, ganz wichtig, auch sein medizinisches Personal zu schützen. Das konsequente Ausblenden aller Warnhinweise führt dazu, dass das Krankenhauspersonal zum letzten Prellbock der Gesellschaft wird. Aber klar, die Intensivmedizin wird das Schlamassel schon irgendwie richten – das ist der unausgesprochene, aber immer mitgedachte Satz. Bis zum Kollaps.

Dabei muss man sich immer bewusst machen, dass nicht nur Sars-CoV-2, sondern auch Herzinfarkte, Tumorerkrankungen und Schlaganfälle Menschen in die Krankenhäuser dieses Landes bringen. Bleibt zu hoffen, dass sie dann dort noch jemand in Empfang nehmen kann.

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